TEIL DREI DER AAL

Man weiß nie, wann der Durchbruch kommt, dieser eine Hinweis, der den Fall von Grund auf ändert. Gewöhnlich ist es kein Aha-Erlebnis. Die Erkenntnis schleicht sich ein, wenn man mit jemandem redet, oder kurz vorm Einschlafen. Manchmal ist es einfach nur einer jener Momente. Ein Fleck am Sternenhimmel, der urplötzlich Gestalt annimmt und erstaunlich klar wird.

Bei mir setzte dieser Moment ein, als ich mir das Gerichtsvideo anschaute. Diese siebenundvierzig Sekunden, die ich so viele Male gesehen hatte.

Ein Kumpel aus meiner alten Abteilung, der C-10, hielt mich in Erinnerung an frühere Zeiten über die Ermittlungen auf dem Laufenden. Eine Gerichtsangestellte namens Monica Ann Romano war am Tag nach Cavellos Flucht ermordet aufgefunden worden. Laut Aussage ihrer Mutter war sie mit jemandem zusammen gewesen, den weder die Mutter noch Anns Freunde auf der Arbeit je gesehen hatten. Doch die Mutter wusste, dass er mit Akzent sprach. Die Polizei dachte, sie könnte erpresst worden sein, um die Waffe ins Gericht zu schmuggeln.

Der Fluchtwagen war auf der Suche nach Fingerabdrücken und DNS-Spuren auseinandergenommen worden. Auch im Haus, in dem Denunziattas Schwester ermordet worden war, war nichts zu finden gewesen. Das Viertel in Paterson in New Jersey war eingehend untersucht, das gesamte Material der Mautstellenkameras auf der I-95 unter die Lupe genommen worden.

Es war mitten in der Nacht, als ich es fand. Ich hatte nicht schlafen können.
Ich saß an meinem Schreibtisch am Rechner und ging die Gerichtsaufnahme vielleicht zum tausendsten Mal durch. Ich hatte das Gesicht des Kerls ausgedruckt, um es Ogilov zu zeigen und ihn mit dem unter Druck zu setzen, was mir zur Verfügung stand. Was so gut wie nichts war.
Ich ließ das Band zu Ende laufen. Meine Lider wurden schwer. Es war schon zwei Uhr durch, ich brauchte etwas Schlaf, aber wollte das Band trotzdem wieder zurückspulen.
Doch plötzlich hielt ich mitten in der Bewegung inne.
Ich blinzelte.
Es war tatsächlich dieses Aha-Erlebnis – Heureka! –, als hätte ich gerade ein Mittel gegen Krebs oder ein tödliches Virus gefunden. Da war es!
Ich beugte mich nach vorne und zoomte mit Hilfe der Fernbedienung auf den Komplizen mit dem Bart. Aber diesmal nicht auf sein Gesicht – oder die Waffe oder seine Armbanduhr, alles Dinge, die sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hatten.
Auf die Schuhe dieses Hurensohnes.
Ich holte die Schuhe nahe heran, riss die Augen weit auf. An der Ferse befand sich gut erkennbar ein Logo.
Eine Art Kreis, der von einer Wellenlinie geteilt wurde.
Mein Gott, Nick! Warum hast du das nicht schon vorher bemerkt?
Ich kannte diese Schuhe.
Mein Herz begann zu rasen. Drei Jahre zuvor hatte ich eine Reise in den Nahen Osten gemacht, um Inspektoren auszubilden.
Die Schuhe wurden in Israel hergestellt. Für die israelische Armee. Für besonderen Halt.
Ich hatte sie sogar selbst getragen, als ich dort gewesen war. Cavellos Komplize musste Israeli sein. Endlich hatte ich etwas in der Hand.
Der Frust, dass mir dieser schwarze Bronco entwischt war, verblasste.
Der Morgen rückte näher. Ich trank noch eine Tasse starken Kaffee, um mich wach zu halten, dann ging ich die Bücher mit den Terrorverdächtigen vom Heimatschutz noch einmal durch. Endlich hatte ich etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte. Die Nadel im Heuhaufen war etwas größer geworden. Die meisten Fotos zeigten Männer aus dem Nahen Osten, aber diese überblätterte ich. Ich suchte nach einem Europäer. Ich wusste ungefähr, wie groß und schwer der Mann war.
Drei Uhr wurde zu halb vier. Dann vier. Es waren unzählige Bücher, die ich durchsehen musste. Hunderte von Pakistanis, baskischen Separatisten, al-Qaida-Sympathisanten und Mitgliedern der FALN oder IRA. Alle standen irgendwie unter Terrorverdacht. Bei allen ging man davon aus, dass sie irgendwann das Land betreten hatten. Viele kannten sich mit Sprengstoffen aus. Aus vier Uhr wurde fünf, und ohne dass ich es merkte, begann es draußen zu dämmern.
An einem der Bilder blieb ich hängen. Vielleicht hatte ich es vorher übersehen, schon zigmal überblättert.
Der Mann hatte kurzes, graubraunes Haar und slawische Gesichtszüge. Ernste, graue Augen.
Russe – aber das war nicht das Einzige, das mich interessierte.
Er war Exmitglied der Spetsnaz-Brigade. Spezialeinheit der Armee. Er war in Tschetschenien stationiert gewesen. 1997 hatte er sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Lange Zeit blieb er einfach verschwunden. Man ging davon aus, dass er zu den Rebellen übergewechselt war.

Remlikov, Kolya.
Ich zog die Akte heraus.
Er war in mehrere mafiaähnliche Morde in Russland und

Europa verwickelt gewesen – an einem korrupten Polizeiinspektor in St. Petersburg, einem Verbrecher in Moskau, der als Zeuge ausgesagt hatte. Er wurde auch gesucht, weil man ihm wegen der in aller Öffentlichkeit durchgeführten Ermordung des venezolanischen Ölministers vor einem Jahr in Paris ein paar Fragen stellen wollte.

Aber nicht sein zugegebenermaßen viel versprechender Lebenslauf war das, was mir wirklich den Atem stocken ließ. Auch nicht der brütende Blick seiner dunklen Augen.

Es war, dass er verwundet worden war, in Tschetschenien. Sein rechtes Bein war von einem Granatsplitter getroffen worden. Es hieß, er hinke immer noch.

Ich dachte über diese Schuhe nach.
Ich hielt ein kleines Foto neben den Bildschirm.
Heiliger Strohsack! Es war weit hergeholt, aber es konnte sein. Ich blickte zur Uhr – schon fünf durch. Hier würde nichts

passieren, aber auf einer anderen Seite des Globus war es Zeit zum Mittagessen.

Ich zog die Schreibtischschublade auf und blätterte die Stapel von Visitenkarten durch, die ich mit Gummibändern zusammenhielt. Irgendwo hatte ich eine Nummer von der Antiterrorabteilung des russischen Geheimdienstes. Diese hatte ich verwendet, wenn ich mir einen Auftragsmörder ausliefern lassen wollte, der für die russische Mafia gearbeitet hatte und wieder nach Hause geflohen war. Hektisch durchsuchte ich die Karten, bis ich die richtige gefunden hatte. Lt. Yuri Plakhov. Inlandsgeheimdienst der russischen Föderation. Ich wählte die dreizehnstellige Nummer, betete, dass er an seinem Schreibtisch saß. Und mein Gebet wurde erhört.

»Plakhov, vot.«
»Yuri, hallo. Vielleicht erinnern Sie sich an mich.« Ich stellte mich vor und erklärte, wer ich war. Wie gut, dass ich diesen Anruf nicht vom FBI aus tätigen musste.

»Sicher erinnere ich mich an Sie, Inspector.« Yuri Plakhov sprach fließend Englisch. »Wir haben doch Ihren Mafioso aufgespürt, Federev, oder?«

»Gutes Gedächtnis, Yuri«, beglückwünschte ich ihn. »Jetzt hätte ich gerne, dass Sie jemand anderen in Ihren Akten aufspüren.« Ich nannte ihm den Namen.

»Rem-li-kov?«, wiederholte er gedehnt. »Das sagt mir was.« Er tippte den Namen ein. »Ist es bei Ihnen drüben nicht noch ein bisschen früh, Inspector?«

»Ja«, antwortete ich knapp. Ich hatte keine Lust zu plaudern. »Hier ist er, Inspector. Remlikov, Kolya. Gesucht in Zusammenhang mit mehreren Morden in Russland und Europa. Ziemlich dicke Akte. Unter anderem steht er im Verdacht, ein ganzes Gebäude in Volgodonsk zum Einsturz gebracht zu haben, in dem ein Regierungsbeamter wohnte. Vierundzwanzig

Menschen wurden getötet.«
Mein Adrenalinspiegel stieg auf ungeahnte Höhen an. »Wie
finde ich diesen Mann, Yuri?«
»Leider kann ich Ihnen seine Mobilnummer nicht geben,
Inspector.« Plakhov kicherte. »Es ist klar, dass er mehrere
Identitäten und Ausweise benutzt. Estländisch, bulgarisch. Er
hieß Kristich, Danilov oder Mastarch. Wir glauben, er war
letztes Jahr in Paris, als dieser venezolanische Ölminister getötet
wurde. Die Spur verliert sich. Ich bezweifle, dass er sich in
Russland aufhält. Es heißt, er ist hier als der eh-oop bekannt, der
Aal. Sehr glitschig, verstehen Sie? Ich kann Ihnen eine Aufnahme von den Fingerabdrücken rüberschicken, wenn Sie
möchten.«
»Gerne«, erwiderte ich. Der Aal. Ein schleimiger, widerlicher
Aal. Die Puzzleteile fügten sich zusammen. »Wo könnte ich mit
der Suche anfangen, Yuri?«
Er schwieg einen Moment, während er in seiner Datei weiter
nach unten scrollte. »Vielleicht in Ihrem eigenen Außenministerium, Inspector. Nach dem zu urteilen, was ich hier sehe,
könnten die Ihnen besser helfen als wir.«
Das Außenministerium. Unser Außenministerium. »Warum
das?«
»Wegen Remlikovs letztem Aufenthaltsort. Man geht davon
aus, dass er in Israel lebt, Inspector.«

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